Ein alter seriobizianischer Mythos

Ein alter seriobizianischer Mythos besagt, alle Menschen auf dieser Welt gehen auf einen einzigen vorgeschichtlichen Stamm von Helden, Kriegern und Weisen zurück. Die Helden ritten auf prächtigen Rössern, die Krieger hatten goldene Lanzen und die Weisen waren scharfsinnig, besonnen und von Geburt an kahlköpfig.

Diesem altehrwürdigen Stamm wurde in einer stürmischen Winternacht ein außerordentlich kräftiger Junge geboren. Alle die dieses Kind sahen, erkannten sofort, dass es kein gewöhnlicher Mensch sein konnte; denn nicht zuletzt kam es mit einer Wucherung inmitten seiner Stirn zur Welt. Doch das war noch nicht einmal das Außergewöhnlichste an dem Jungen: Wirklich aufsehenerregend war die goldene Farbe, die der Wucherung die Anmutung einer der Speerspitzen der Stammeskrieger verlieh.

Nicht wenige Menschen des Stamms fürchteten diesen Jungen vom ersten Tag an. Als ihm zudem auch keine Haare wuchsen und sein Leib im Gegenzug jedoch ungewöhnlich schnell, berief der Stamm an seinem dritten Geburtstag ein Dorfgericht ein. Die Krieger verlangten, das Kind zu töten, da ein Dämon in ihm hause. Die Helden forderten, den Jungen gefangen zu setzen. Sie wollten, dass sich ihm der ehrenwerteste unter ihnen, zu gegebener Zeit zu einem Kampf stellen durfte. Doch wie so oft, entschied sich das Dorf am Ende für einen Vorschlag, der aus den Reihen der Weisen stammte: Ein Held, ein Krieger und ein Weiser würden mit dem Jungen ins Exil gehen. Sollte sich herausstellen, dass ihm tatsächlich ein Dämon innewohnte, würden sie ihn töten. Bis dahin würden sie ihm jedoch alles lehren, was sie selbst wussten oder konnten.

Mit den Jahren rückte die Erinnerung an den Jungen und seine drei Lehrmeister in weite Ferne. Nur die Weisen erzählten am abendlichen Lagerfeuer in jedem Jahr in der Nacht seiner Geburt, drei Tage nach der Wintersonnenwende, die Geschichte von einem Knaben, der mit einem Helden, einem Krieger und einem Weisen in die Verbannung zog und entweder sterben musste oder als weiser Held und Krieger zurückkehren würde.

Als am vierzigsten Jahrestag der Verbannung, das Oberhaupt der Gilde der Weisen, einer kleinen Tradition folgend, erneut die Geschichte über den Knaben am Feuer erzählte, lauschten ihm, wie in jedem Jahr, alle Kinder mit großen Augen und aufgerissenen Mündern. Die Erwachsenen des Stammes wartenden derweil, auch wie immer, hinter ihnen das Ende der Geschichte ab; mit kleinen Geschenken in den Händen.

Doch diesmal begab es sich, dass der Erzähler von einem lauten Schnauben in der Dunkelheit unterbrochen wurde. Die Köpfe aller suchten nach der Quelle des Geräuschs. Hatte sich eines der Pferde losgerissen? Wurden sie von einem wilden Tier angegriffen? Die Krieger griffen zu ihren Lanzen und die Helden wollten schon losrennen und die Dunkelheit erkunden, doch der weise Erzähler stoppte sie mit einem Ruf und heftete seinen Blick an einen Punkt in der schwarzen Nacht. Nach und nach folgten die Anwesenden seinem Beispiel und blickten ins selbe dunkle Nichts. Da rief plötzlich eines der Kinder aus und zeigte aufgeregt auf eine von außerhalb des Dorfes kommende und immer heller werdende Erscheinung. Daraufhin sahen es alle: Ein mächtiges, weißes Einhorn trat zu ihnen ans Feuer. Das mystische Wesen schnaubte aus seinen Nüstern, scharrte mit den Hufen und wandte seinen Kopf hin und her. Der weise Erzähler rührte sich als erster wieder: »Holt Futter! Und Wasser…«, flüsterte er einem hinter ihm stehenden Helden zu.

Nachdem es sich gestärkt hatte, beruhigte sich das Geschöpf und es stellte sich heraus, dass es friedvoll und nahezu zahm war. Da sie nicht wussten, was sie sonst mit dem Einhorn anfangen sollten, führten sie es hernach auf die Koppel zu ihren eigenen Pferden. Diese reagierten zwar nervös, aber nicht ängstlich. Man nahm dies als gutes Zeichen und begab sich zur Nachtruhe. Aber nicht ohne einen Helden und einen Krieger als Wache abzustellen.

Als diese das Dorf am nächsten Morgen zur Koppel riefen, schien das Einhorn verschwunden zu sein. Es war größer als alle anderen Tiere auf der Weide gewesen, so dass sie es hätten schon von Weitem sehen müssen. Was jedoch obendrein eigenartig war: Alle ihre Pferde standen ungewöhnlich dicht gedrängt an ihrer Futterstelle. Ein Held, ein Krieger und ein Weiser bahnten sich daraufhin den Weg durch die Horde und als sie in deren Mitte ankamen, fanden sie dort kein Tier, sondern einen schlafenden Mann. Er war nackt und augenscheinlich keiner aus ihrem Dorf. Doch der Weise erkannte sofort, dass es anders war: Der Fremde war kahlköpfig, ungewöhnlich groß und kräftig; und er hatte ein Horn an der Stirn … ein golden in der Morgensonne schimmerndes Horn.

Der Junge, den sie einst ins Exil geschickt hatten, war zurückgekehrt. Er berichtete ihnen am Frühstückstisch, dass der letzte seiner drei Begleiter im vergangenen Sommer gestorben war. Es war sein alter, weiser Lehrer. Er hatte ihm erst im Sterbebett offenbart, dass sie alle vier Abkömmlinge eines Stammes seinen und dass er nun bereit wäre, zu diesem Stamm zurückzukehren. Die folgenden Monate hatte der verlorene Sohn, den Stamm im ganzen Land gesucht. Und nun gefunden.

Die drei Männer hatten den Jungen sowohl zu einem Helden, einem Krieger, wie auch einem Weisen erzogen. Mit seinem Mut, seiner Kraft und seiner Lebenserfahrung half er fortan seinen Stamm zu behüten und lehrte sie alles, was er wusste. Denn wenn auch sein Wissen und Können auf dem althergebrachten seines Stammes beruhte, hatte er in der Ferne neue Erkenntnisse daraus ableiten können und altes Wissen verfeinert.

Der alte seriobizianische Mythos besagt weiterhin, dass in jeder Weihnachtsnacht einem Mensch im 44. Lebensjahr offenbart wird, dass er genau von jenem Manne abstammt; zugleich zu einem Helden, einem Krieger und einem Weisen geboren. Erkennen sollt ihr ihn an einem Mal auf seiner Stirn, mit dem er am Weihnachtsmorgen erwacht…

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