Nur weg – eine Kurzgeschichte

Seine Beinmuskulatur übersäuerte, seine Lunge machte zu, sein Gleichgewichtssinn stand kurz vor dem Kollaps. Doch er musste weiter rennen. Es wurde gejagt. Und er war die Beute. Tränen verschleierten ihm die Augen. Da vorne wurde es heller. War da nicht gerade ein Auto vorbeigefahren? Da sollten … da mussten Menschen sein. Er rannte weiter. Zumindest versuchte er zu rennen. Eigentlich stolperte er mehr, als dass er rannte. Sein Raumgewinn war lächerlich. Immer wieder kam er ins Straucheln. Nur mit Mühe könnte er sich auf den Beinen halten. Da! Da vorne waren Menschen. Er wollte um Hilfe rufen, doch bekam er kaum mehr als ein Röcheln heraus. Also weiter hasten. Nur noch an diesen Müll-Containern vorbei, dann waren es nur noch wenige Meter bis zur Hauptstraße. Bis zu den Autos. Bis zu den Menschen. Diese Häuserschlucht war so erdrückend. Auf Höhe der Mülltonne hielt er sich links. Von dem vermeintlichen Hinterhalt weg. Vorbei. Er war vorbei. Er wagte einen Schulterblick. Niemand da. Hatte er sie abgehängt? Egal. Er versuchte weiter voran zu kommen. Sicher ist sicher. Er stolperte über eine Unebenheit. Er fiel. Sein Körper wollte ihn schützen, mit einer weiteren Dosis Adrenalin. Er schlug auf. Früher einmal, da hätte er sich abrollen können. Doch damals hätte er auch dauerhaft schnell rennen können. Aber für diese Fähigkeiten tat er schon seit Jahren nichts mehr. Scheiß Fernsehen. Scheiß Büro-Job. Niemand packte ihn von hinten. Er rollte sich auf den Rücken und blickte in das trübe Nichts, aus dem er gekommen war. Bewegt sich da etwas? Denkbar ungelenk rappelte er sich wieder auf. Seine Beine waren davon nicht begeistert. Doch kam er wieder ins Stehen. Dann humpelte er weiter. Nur noch wenige Meter, dann war er zurück in der Zivilisation. Wenn er gleich aus dieser Gasse heraustorkeln würde, war gegenüber eine Bäckerei-Filiale. Das konnte er schon erkennen. Doch wie alle anderen Geschäfte auch, hatte sie natürlich schon seit Stunden geschlossen. Warum konnte dort auch keine Kneipe oder ein Imbiss sein? Jetzt war er im Licht. Niemand zu sehen. Auch keine Scheinwerfer. Links oder rechts? Links oder rechts? Rechts. Er schleppte sich die Straße entlang. Ein Orthopädie-Geschäft, ein Blumenladen, Laden zu vermieten. Er merkte, dass die Hausnummern größer wurden. Er lief von der Stadtmitte weg. Nicht gut. Er lief auf die Straße, überquerte sie. Dort parkte ein Wagen. Er verschanzte sich dahinter. Ein wenig durchatmen. Er hörte sich japsen. Die ganze Straße musste ihn hören, eine alte Dampflok wäre kaum lauter gewesen. Beruhigen, beruhigen, beruhigen. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Und den Rücken. Sein T-Shirt klebte auf seiner schwarzen Haut. Sein rechtes Augenlid zuckte. Die Nerven. Nein. Oh, nein! Nun hörte er sie. Sie grölten. Parolen. Unter das Auto! Da werden sie mich doch sicherlich nicht suchen. Oder? Er legte sich hin und versuchte sich zwischen Bordsteinkante und dem Türschweller des Wagens hindurchzuquetschen. Es ging nicht. Aber es musste gehen! Er quetschte mehr. Dann war er durch. Er schloss die Augen. Als wenn ihn das unsichtbar machen würde. Die Parolen wurden lauter. Sie kamen. Er öffnete die Augen wieder, rollte sich auf die Seite. Die Parolen verstummten. Nun konnte er sie sehen. Sie standen an der Stelle, wo die Gasse auf die Straße traf. Einige grölten, andere beratschlagten. Wo ist das Schwein hin? Dann sah er, wie ein knappes Dutzend Springerstiefel in seine Richtung kamen. Die weitaus größere Anzahl marschierte jedoch in die andere Richtung. Jetzt waren sie gleich auf der Höhe seines Unterschlupfs. Das Schwein ist sicher in die andere Richtung und wir latschen hier bescheuert aus der Stadt raus. Halts Maul. Halts doch selber. Warum mussten sie sich gerade hier, in die nicht vorhandenen Haare bekommen? Hey! Lasst das! Hier wird nicht gerangelt! Wie Mädchen, echt! Spart eure Kräfte für das schwarze Schwein. Wieso? Den schnappen doch hundert Pro die Anderen. Da wär ich mir mal nicht so sicher. Ach, glaub doch was du willst, ich hau ab. Ja, mach dich vom Acker, Blödmann. Ein einzelnes Paar Stiefel lösten sich von der Truppe. Sie gingen zum Wagen. Zur Fahrertür. Panik. Die Tür wurde aufgeschlossen, dann geöffnet. Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd und komm wieder her. Direkt neben seinem Kopf wurde nun gejammert. Ich will so einem Dreckschwein auch mal die Fresse polieren. Okay, dann laufen wir eben denen hinterher. Die Tür wurde wieder zugeschlagen. Dröhnen in den Ohren. Das eine Paar Stiefel ging zurück zu den Anderen. Gemeinsam marschierten sie in Richtung Innenstadt. Keine Parolen. Nur Genörgel. Er atmete wieder. Schnell und hektisch. Er bekam nicht genug Luft in seinen Körper, nicht soviel, wie dieser von ihm verlangte. Seine Beine zuckten. Doch langsam bekam er sich wieder in den Griff. Nun doch aus der Ferne: Deutschland den Deutschen! Behaltet euer verschissenes Deutschland! Nur weg hier. Nur weg.


Wozu habe ich hier eine Kategorie “Schreiberei“, wenn ich da nix reinpacke?! Deshalb heute eine meiner Kurzgeschichten. Mir geht es beim Schreiben vor allem darum, dass ich es tue. Es tut mir gut und bereitet mir Freude. Auch wenn diese Geschichte ein eher ernstes Thema hat … muss ja auch mal sein.

2 Gedanken zu „Nur weg – eine Kurzgeschichte“

  1. Die Geschichte liest sich echt gut und ist spannend! Hoffe du schreibst bald eine Fortsetzung. 🙂 Würde auch auf einen “Daumen hoch”-Button klicken. Wie bist du auf die Idee gekommen darüber zu schreiben?

  2. Danke 🙂
    Meine Kurzgeschichten entstehen meist, wenn ich eigentlich an einer “Langgeschichte” (Roman) schreibe, da aber nicht so richtig weiterkomme und dann etwas brauche, um wieder ins Schreiben reinzukommen. Dann setze ich mich hin und schreibe einfach drauf los. So ist auch diese Kurzgeschichte entstanden…

Kommentare sind geschlossen.